#02 2021 - Wir verlieren unsere globale Führungsposition - und das hat nicht nur mit Technik zu tun
Deutschland hat in vielen Bereichen die Digitalisierung verschlafen, in Teilen der Industrie, aber in nahezu allen Sektoren des öffentlichen Lebens. Das hat in den letzten Monaten für uns alle sehr viel Schmerzen verursacht: im Gesundheitswesen, im Bildungsbereich, im Finanzbereich, im Transportwesen und auch in der Justiz. Der Mangel wurde überall deutlich sichtbar.
Nun wird vor allem immer lauter nach einer besseren technischen Ausstattung und einer breiteren digitalen Infrastruktur gerufen.
Doch Technik allein wird das nicht heilen.
Informationstechnik ist längst ein nicht mehr wegzudenkender Teil unseres Alltags geworden. Jedes Kind ist mittlerweile ein wandelndes Elementarteilchen des „Internet-of-Things“ geworden, kann mit jeder nur denkbaren Anwendung zu jeder Zeit erreicht werden und beherrscht die Klaviatur der digitalen Interaktion längst besser, als es vermutlich jede Schule vermitteln könnte.
Das größere Problem sind wir selbst. Es mangelt uns an Verständnis für die Vorzüge einer gut digitalisierten Gesellschaft. Es mangelt an strategischer Weitsicht und persönlicher Veränderungsbereitschaft. Es mangelt an Mut zur Abweichung von der Norm und zur Transformation des eigenen Selbstverständnisses.
Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit einem befreundeten Lehrer, irgendwann zwischen der 2. und 3. Welle. Mein Frust über die unglaubliche Verschlafenheit der Schulen, was die erforderlichen Veränderungen anbelangt, habe ich tapfer unterdrückt. Die Tatsache, dass kein Beamter Privilegien hat abgeben und, anders als so ziemlich alle anderen Berufsgruppen, finanzielle Einbußen hinnehmen müssen, habe ich (dem Frieden zu Liebe) nicht ins Feld geführt. Mit Engelszungen und Verve habe ich also versucht, von den vielen Vorteilen des digital unterstützten Unterrichts zu überzeugen, mit eigenen Erfahrungen.
Unsere Tochter schon seit einiger Zeit unterstützend mit einer Lern-Plattform. Sie kann sich so über eine Vielzahl unterschiedlicher Medien mit dem aktuellen Lernstoff vertraut machen, und erhält eine gute, dynamische Übersicht dessen, was sie können muss oder in welchen Bereichen sie Nachholbedarf hat. Sie kann ihr eigenes Lerntempo gehen und, wann immer erforderlich, auch einfach mal den „Lehrer zurückspulen“. Sie kann jederzeit über eine Chat-Funktion ihre Fragen stellen und unkompliziert den persönlichen Austausch suchen, auch nach der offiziellen Schulzeit. Zu nahezu allen Themengebieten werden Tests und Musterklassenarbeiten angeboten, Lösungswege und Antworten sind selbstredend auf Knopfdruck verfügbar.
Ich vertrat und vertrete nicht die Ansicht, dass digitales Lernen und Leben allein glückseligmachend ist. In Verbindung mit klassischen Methoden sind die Vorteile aber einfach zu überzeugend. Lehrer*innen herauszuarbeiten haben die große Chance, Schüler individueller zu betreuen. Sie haben bis hin zu der Möglichkeit, in besonderen Fällen auch einfach mal von zu Hause unterrichten zu können. Aber, tausend Gründe, warum dieses und warum jenes nun mal nicht sinnvoll oder umsetzbar sei.
Warum ist das so? Warum begegnen wir Veränderungen so skeptisch?
Ich denke, wir sind, auch im Vergleich zu vielen anderen Ländern, derart starr und programmiert sozialisiert worden, dass es viel zu viele Dinge gibt, die einfach grundsätzlich nach bestimmten Mustern funktionieren müssen. Das war schon immer so und das Ziel bestimmt den Weg, nicht andersherum. Querköpfe kommen bei uns nirgends wirklich gut an. Wir spielen auch lieber Moll denn Dur. Das Lehrerbeispiel ist dabei willkürlich gewählt.
Ich habe in ganz ähnlichen Situationen, ob in Unternehmen und in privaten Situationen, vergleichbare Erfahrungen gemacht. Bei Neuem und Fremden sind wir sehr skeptisch, suchen manchmal geradezu krampfhaft nach den Argumenten, die wir dem Neuen entgegnen könnten. Wir ergötzen uns geradezu daran, und wollen uns über die Möglichkeiten des Fortschritts nicht (oder nicht mehr?) so recht freuen.
Das Dilemma ist daher, wie so oft, eher eine Frage der Haltung, weniger der technischen Voraussetzungen oder schlechten Rahmenbedingungen.
In der Süddeutschen Zeitung habe ich einen Kommentar gefunden, der mir aus der Seele spricht: >> Es mag verständlich sein, dass Menschen keine Lust haben, sich von "dem Internet" ihre mühsam erarbeiteten oder auch nur ererbten Privilegien streitig machen zu lassen. Es ist womöglich sogar legitim, dass sie dafür in Worten, Budget-Entscheidungen und konkreten Taten dem Neuen und Digitalen weniger Chancen eingeräumt haben. … Besser wäre es, endlich auszusprechen, dass es in diesem Land einen offenen Konflikt über die Frage gibt, wie mit den Möglichkeiten der Digitalisierung umzugehen sei.>>*
*www.sueddeutsche.de/digital/digitalisierung-politik-kommentar-1.5112615